Die Kombination geisteswissenschaftlicher und informationstechnologischer Denkmodelle und Arbeitstechniken hat zwar bereits eine lange Tradition - in jüngster Zeit hat diese für beide Bereiche fruchtbare Symbiose / Kombination unter dem Namen "Digital Humanities" jedoch eine besondere Bedeutung gewonnen. Der Verband "Digital Humanities im deutschsprachigen Raum" (DHd) ist ein Forum für dieses Forschungsfeld und die formelle Interessenvertretung für Forscherinnen und Forscher, die sich im deutschsprachigen Raum in Forschung und Lehre – unabhängig von ihrer jeweiligen Fachdisziplin – damit beschäftigen.
Die Digital Humanities sind seit dem Jahre 1949 aus vielen Wurzeln entstanden: Alle an den Philosophischen Fakultäten gelehrten Fächer haben zu ihrer Herausbildung beigetragen; alle Anwendungsfelder der Informationstechnologien sind für die Geisteswissenschaften relevant – und relevant sind, obwohl dies für die Geisteswissenschaften mitunter auf den ersten Blick nicht zu erkennen sein mag, auch abstraktere Konzepte der Informatik jenseits der konkreten Werkzeuge.
Diese Breite des Forschungsfeldes bestimmt seinen Reichtum; sie macht es aber gleichzeitig schwierig, seine Konturen zu erkennen und erschwert neu hinzukommenden Kolleginnen und Kollegen die Einbindung. Wir schlagen daher vor, im Rahmen der Digital Humanities im deutschsprachigen Raum einen Diskussionsprozess zu beginnen, der Selbstverständnis, Aufgabenstellungen und Entwicklungsperspektiven der Digital Humanities im deutschsprachigen Raum thematisiert und die Konturen des Forschungsfeldes schärft.
Um diesen Prozess einzuleiten, legen wir zunächst neun Thesen vor, die Felder definieren, deren konzeptuelle Abklärung wir für vordringlich erachten. Wie ein solcher Diskussionsprozess organisatorisch weitergeführt werden kann, wird auf der Jahrestagung der Digital Humanities im deutschsprachigen Raum im März 2014 in Passau zu besprechen sein.
Die Digital Humanities bereichern die traditionellen Geisteswissenschaften konzeptionell und methodisch - ihre Werkzeuge und Verfahren ergänzen das “Wie” unserer Praxis um eine empirisch ausgerichtete Epistemologie.
Der Begriff “Digital Humanities” bezeichnet eine Epistemologie und Methodik, die intersubjektiv reproduzierbare Erkenntnis in den Geisteswissenschaften zum Ziel hat. Diese Epistemologie und Methodik zeichnet sich durch folgende Merkmale aus:
Bei allem methodischen und theoretischen Anspruch ist für die Digital Humanities zugleich eine pragmatische Orientierung kennzeichnend. Die Entwicklung und Bereitstellung informationstechnischer Werkzeuge gehört deshalb zu ihren zentralen Merkmalen.
Dass die Geisteswissenschaften Methoden, die digitale Werkzeuge erfordern, umso bereitwilliger einsetzen, je einfacher ihre Anwendung ist, kann nicht überraschen. Der kompetenten Anwendung der jeweils letzten Generation allgemein verfügbarer technischer Hilfsmittel, dem anschaulichen Gewinn aus dieser Anwendung, kommt bei der Verbreitung der digitalen Methoden daher eine Schlüsselrolle zu.
Dabei darf es jedoch nie dazu kommen, dass die Frage der Antwort angepasst wird: Wenn herkömmliche Datenbanksysteme präzise Datierungen erwarten, ein Kunsthistoriker eine Datierung jedoch nur in das letzte Drittel eines Jahrhunderts vornehmen kann, sind die Fähigkeiten der Datenbank anzupassen, nicht die Konzeptualisierung der Kunstgeschichte. Eine Diskussion der in diesem Sinne notwendigen Werkzeuge ist eine wichtige Aufgabe der Digital Humanities. Dies ändert nichts daran, dass die Kompetenz im Umgang mit inhaltsneutralen technischen Werkzeugen eine selbstverständliche Voraussetzung für ihre inhaltsspezifische Anpassung ist; noch, dass es viele geisteswissenschaftliche Arbeitsfelder gibt, wo die bestehenden inhaltsneutralen Werkzeuge vieles erleichtern.
Derartige Weiterentwicklungen der Technologien müssen jedoch so durchgeführt werden, dass sie wiederverwendbar bleiben: Die Zahl von Projekten, die in den letzten 50 Jahren Lösungen für das erwähnte Datierungsproblem gefunden hat, könnte vierstellig sein, hätte man Zugang zu allen Projektberichten - die Zahl von Veröffentlichungen liegt im dreistelligen Bereich. Nichtsdestoweniger wird ein Projekt, das diesem Problem in Kürze wieder begegnet, mutmaßlich eine neue Lösung innerhalb der verwendeten Softwareumgebung finden müssen. Es sind also auch Mittel und Wege zu finden, um zu wiederverwendbaren, standardisierten Werkzeugen zu kommen. Datenbezogene Standards können dabei helfen; aber nur wenn ihnen ein abstraktes Datenmodell zu Grunde liegt. Derzeit in den Geisteswissenschaften verwendete Standards erfüllen diese Bedingung fast nie.
Es ist zu unterstreichen, dass „Werkzeuge“ auf sehr unterschiedlichen Komplexitätsebenen existieren können: Temporale Queries in Datenbanksystemen wurden ihrer Anschaulichkeit halber gewählt. Das Gesagte gilt aber gleichermaßen auch für Systeme wesentlich höherer Komplexität: Auch Annotationssysteme sind Werkzeuge im hier beschriebenen Sinn, deren Komponenten sich möglichst nahtlos in unterschiedliche Verarbeitungskontexte einfügen sollten.
Die Digital Humanities stehen nicht außerhalb der Geisteswissenschaften, sie sind einer ihrer Teile. Die Übertragbarkeit von Modellen, Methoden und Werkzeugen von einer traditionellen Disziplin auf eine andere hilft bei der Überwindung disziplinärer Grenzen.
Die technischen Entwicklungen und ihre fachspezifische Operationalisierung in den Digital Humanities stellen auch die Disziplinarität etablierter geisteswissenschaftlicher Fächer vor neue Herausforderungen. Die Tatsache, dass die Digital Humanities Artefakte als ‚regelhaft organisierte Mengen diskreter, wohldefinierter Einheiten’ konzeptualisieren, führt dazu, dass beispielsweise Texte stärker in ihren strukturellen (phonetischen, morphologischen, syntaktischen, semantischen) Bestandteilen wahrgenommen werden. Dies führt in historisch orientierten literaturwissenschaftlichen Disziplinen (wie etwa der germanistischen Mediävistik) dazu, dass – nach den kulturwissenschaftlichen Orientierungen der Jahre um 2000 – wieder Bereiche wie Lexikologie, historische Grammatik, Sprachgeschichte ins Blickfeld rücken, beispielsweise durch elektronisch verfügbare Hilfsmittel wie Wörterbücher oder durch Digitalfaksimiles und Texttranskriptionen in elektronischen Editionen. Diese Hilfsmittel haben sich als so nützlich erwiesen, dass sie auch von Vertretern kulturwissenschaftlicher Ansätze gerne verwendet werden, die der editorisch / hilfswissenschaftlichen Tradition, aus der sie entstanden sind, sonst eher skeptisch gegenüberstehen.
Technische Lösungen für geisteswissenschaftliche Probleme erfordern ein tieferes Verständnis der Möglichkeiten der Informatik, das über die bloße Anwendung hinausgeht und unmittelbar auf die Theoriebildung einwirkt.
Die technologische Entwicklung hat in den letzten Jahrzehnten die Art, wie wir mit Information umgehen und kommunizieren radikal verändert. Selbstverständlich nutzen die Geisteswissenschaften diese Technologien genauso intensiv, wie die Gesellschaft insgesamt. Diese aus der allgemeinen Entwicklung übernommenen Technologien werden meist spätestens einige Jahre nach ihrer Einführung zu selbstverständlichen Standards und ohne bewusste Entscheidung verwendet. Es gibt jedoch auch Felder geisteswissenschaftlicher Forschung, die versuchen, durch den Einsatz moderner Informationstechnologien oder aus der Informatik abgeleiteter Instrumente inhaltliche Ergebnisse zu erzielen, die ohne den Einsatz dieser Instrumente entweder gar nicht zu erzielen wären, oder bei denen dies nur auf einer niedrigeren Ebene intersubjektiver Nachprüfbarkeit geschehen könnte.
Derartige Instrumente können aus allgemeinen Prinzipien der Softwaretechnologie und der Informatik abgeleitet werden: Der Versuch, diese Prinzipien unverändert anzuwenden, greift jedoch meist zu kurz. Die meisten Anwendungen der Informatik setzen voraus, dass Daten widerspruchsfrei, eindeutig und konsistent sind. Dies sind sie in den Geisteswissenschaften nur im Ausnahmefall. Im weiten Methodenspektrum der Informatik gibt es natürlich auch Ansätze zum Umgang mit Daten, die die genannten Prämissen verletzen: Deren Verwendung bei der Implementation von neuen Verfahren und Werkzeugen ist jedoch nicht selbstverständlich. Daneben gibt es eine ganze Reihe von Problemen, für die in den letzten Jahrzehnten pragmatische Lösungen für den Umgang mit immer wiederkehrenden Problemen in geisteswissenschaftlich motivierten Projekten gefunden wurden. Selbst wenn diese durch Informatiker implementiert wurden, sind sie anderen Informatikern nicht automatisch bekannt.
Die Zusammenarbeit zwischen den Geisteswissenschaften und der Informatik kann also nicht durch die Übernahme fertiger Lösungen geschehen, sondern nur durch die gemeinsame Analyse der fachspezifischen Probleme, in Kenntnis der interdisziplinären Traditionen.
Die Geisteswissenschaften haben eine lange Tradition der Nutzung von Bibliotheken, Archiven und Museen. Die Formen dieser Kooperation müssen gemeinsam den Möglichkeiten angepasst werden, die sich durch die neuen Technologien ergeben.
Die klassischen Informationssysteme - Bibliotheken, Archive, Museen - spielen für die Digital Humanities eine wichtige Rolle. Sie bilden gleichsam das Rückgrat und die Voraussetzung für die Anwendung und Weiterentwicklung digitaler Methoden. Sie treiben die Transformation des kulturellen Erbes in eine digitale Form voran und schaffen zugleich die notwendigen Rahmenbedingungen, um aus Forschungsprojekten erwachsene Daten und Arbeitsergebnisse zuverlässig zu sichern sowie über geeignete offene Schnittstellen wieder in den Forschungskreislauf einzuspeisen. Im Einzelnen betrifft dies die
Virtuelle Infrastrukturen ermöglichen die gemeinsame Nutzung generischer Dienste und bieten eine grundlegende Basis für Werkzeuge. Solche Infrastrukturen sollten vorhandene Anforderungen erfüllen, Werkzeuge sollten kompatibel zu ihnen entwickelt werden.
Mit der zunehmenden Komplexität der Algorithmen, der zunehmenden Größe der untersuchten Datenbestände und dem die Zusammenarbeit stärker betonenden Arbeitsstil, wird eine leistungsstarke technische Infrastruktur für die Digital Humanities immer wichtiger. Deshalb entwickeln sich gegenwärtig virtuelle Forschungsinfrastrukturen, wie sie für die Naturwissenschaften schon lange üblich waren, auch in den Geisteswissenschaften. Ziel hierbei ist es, alle einschlägigen projekt-übergreifenden Anforderungen, die Digital Humanities-Projekte haben, zu erfüllen. Abhängig von der örtlichen Lage und organisatorischen Einbettung eines Projekts können solche Anforderungen schon in der reinen Zurverfügungstellung von virtuellen Servern und Speicherplatz bestehen. In jedem Fall können Projekte aber profitieren von generischen Diensten, wie der Einbettung von Anwendungen in eine übergreifende Authentifizierungs- und Autorisierungsinfrastruktur, der Bezugsmöglichkeit von permanenten Identifikatoren für Daten und der Bereitstellung von Datenbank-Infrastrukturen. Neben
inhaltsneutralen Diensten, können virtuelle Forschungsinfrastrukturen für die Geisteswissenschaften aber auch fachbezogene projektübergreifende Dienste anbieten, wie zum Beispiel den über Metadaten und Volltext erfolgenden Zugriff auf Datensammlungen oder die Bereitstellung von Visualisierungs- und Analysewerkzeugen für häufig in den Geisteswissenschaften verwendete Datentypen, etwa computerlinguistische Verfahren für Sprachdaten oder Darstellungswerkzeuge für Zeit- und Raum-bezogene Daten. Kritisch dabei ist, dass Projekte solche Infrastrukturen kennen und auch bereit sind sie zu verwenden - weil Infrastrukturen ihre Anforderungen auch wirklich erfüllen. Schließlich sind virtuelle Forschungsinfrastrukturen nur sinnvoll, wenn ihr nachhaltiger Betrieb gesichert ist.
Die Digital Humanities sind aus spezifischen inhaltlichen Forschungsprojekten entstanden, ihre Methoden entwickelten sich von Fall zu Fall aus dem konkreten Bedarf. Inzwischen sind die DH jedoch zu einem eigenständigen Fach gereift: Sie sollten sowohl als Bestandteil anderer Fächer, als auch in dedizierten Studiengängen unterrichtet werden.
Was die Lehre von Digital Humanities betrifft, so soll diese längerfristig auf den folgenden Ebenen erfolgen:
Das Ziel von Digital Humanities-Studiengängen muss sein, Mittler zwischen Informatik und Geisteswissenschaften auszubilden, die mit beiden auf Augenhöhe interagieren können, die Spezifika geisteswissenschaftlicher Problemstellungen kennen und fähig sind, im Sinne der Brückenfunktion der Digital Humanities auch kulturwissenschaftliche Konzepte und Denkweisen in die Informatik zu tragen und dort ein Nachdenken über die Modellierbarkeit von häufig schwer mess- oder quantifizierbaren bzw. hermeneutisch-erwägenden Prozessen zu fördern.
Um Digital Humanities Studiengänge „für die gesamte Breite der Geisteswissenschaften“ entwickeln zu können, müssen prinzipiell Fragestellungen gewählt werden, die in vielen Geisteswissenschaften eine Rolle spielen, wie z. B. geisteswissenschaftliche Forschungsdaten, deren Manipulation und Modellierung, sinnvoller Umgang mit ungefähren Datierungen, statistisch korrekter Umgang mit Verfahren automatischer Klassifikation, die Darstellung von Texteditionen in einer Form, die mehrere Emendationen oder Konjekturen als Alternativen ermöglicht oder, die Artefakten adäquate Auszeichnung. In all diesen Fällen ist Verständnis der und das inhaltliche Wissen über die jeweiligen Artefakte eine unabdingbare Voraussetzung. Zudem ist handwerkliches Wissen gefordert, wie das um existierende Standards, nachnutzungsorientierte Publikationsformen und ähnliche Themen. Weitere Inhalte ergeben sich aus einer Verallgemeinerung der in Digital Humanities-Projekten benötigten Kenntnisse.
Der Verband Digital Humanities im deutschsprachigen Raum dient der Selbstorganisation einer neuen transdisziplinären Community und vertritt deren Interessen.
Seine gegenwärtigen Aufgaben sieht der Verband vornehmlich in:
Im Hinblick auf die im Mittelpunkt stehende Nachwuchsförderung sollen u. a. neue Veranstaltungsformen erprobt, Stipendien geschaffen und Berufsperspektiven herausgearbeitet werden.
Die Digital Humanities operieren im Schnittfeld zwischen Geisteswissenschaften und Informatik. Für diesen interdisziplinären Arbeitsbereich müssen neue, eigene Evaluationskulturen und Peer- Review-Verfahren aufgebaut werden.
Digital Humanities werden oft noch als Nebeneinander eines Geisteswissenschaftlers / einer Geisteswissenschaftlerin und eines Informatikers / einer Informatikerin wahrgenommen, weshalb Forschende in der Regel dazu gezwungen werden, sich einer der beiden Kategorien zuzuordnen. Andererseits ist Digital Humanities-Forschung in der Regel forschungsparadigmen-übergreifend (Geisteswissenschaften – Informatik) bzw. innerhalb der Geisteswissenschaften disziplin-übergreifend angelegt, setzt also einen neuen Typus von Forschern und Forscherinnen voraus. Dies sind Gründe dafür, dass Kriterien oder Best-practices, nach denen Digital Humanities-Projekte evaluiert werden können, noch weitgehend fehlen und Evaluationen oft aus dem isolierten Blickwinkel eines der beteiligten Fächer erfolgen. Erschwerend kommt hinzu, dass internationale Forschungsergebnisse der Digital Humanities (State-of-the-art) im deutschsprachigen Raum oft nicht ausreichend zur Kenntnis genommen werden – allerdings gilt auch das Umgekehrte.
Um innovative Ansätze in diesem neuen Zwischenbereich angemessen zu würdigen, hat sich der Verband Digital Humanities im deutschsprachigen Raum die Aufgabe gestellt, die Bedingungen für die Begutachtung von Forschung, die einen Digital Humanities-Anteil aufweist, zu verbessern – sei es im Rahmen der Begutachtung von Forschungsanträgen, in Peer-Review-Verfahren, Rezensionen oder beim Aufstellen von Kriterien für Berufungskommissionen.
Der Verband plant dazu die folgenden Aktivitäten:
Die Digitalen Techniken haben sowohl die Art, wie geisteswissenschaftliche Ergebnisse publiziert werden, als auch die Struktur dieser Publikationen, verändert. Unabhängig von ihrer Würdigung in der Evaluation von Projekten und Karrieren muss dieser Wandel unterstützt werden.
Die Digital Humanities haben neue Methoden, Fragestellungen und Sichtweisen nicht nur auf die geisteswissenschaftlichen Praktiken, sondern auch auf die Forschungsgegenstände selbst ermöglicht. Darüber hinaus haben sie aber auch ein prinzipielles Nachdenken über Wesen und Praxis traditioneller Forschungs- und Evaluationskulturen bewirkt, ja zum Teil sogar dazu geführt, dass diese in Frage gestellt werden. Damit verbunden ist ein Wandel der wissenschaftlichen Kommunikations-, Publikations- und Evaluationskulturen, die nicht nur die Forschenden selber, sondern auch die universitären und auf dem Gebiet der Forschungspolitik und –Förderung tätigen Institutionen mit einbezieht.
Der Verband Digital Humanities im deutschsprachigen Raum wird diesen grundlegenden Wandel mitbegleiten und insbesondere folgende Punkte in den Fokus seiner Tätigkeit stellen: